Sieglinde Tatz Borgogno

Wurde am 16.01.1942 in Eppan geboren lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Bozen bereits als Kind besuchte sie beim Südtiroler Künstlerbund Kunstkurse und wurde von drei bekannten Südtiroler KünstlerInnen unterrichtet: Hans Prünster (Grafik), Maria Delago (Keramik) und Lore Arnold Maurer (Malerei). Der renommierte und mit der Familie der Künstlerin befreundete Maler Hans Weber-Tyrol hatte das Talent von Sieglinde Tatz (später Tatz Borgogno) erkannt und empfahl ihr diese Kunstkurse. Später hielt die Künstlerin selbst zahlreiche Kunstkurse beim Südtiroler Künstlerbund Studium der Freien Künste in Graz, Palermo und Salzburg, Lehrbefähigung und Unterrichtstätigkeit (Kunsterziehung) Personalausstellungen u. a. in Pisa, Paris, Innsbruck, Athen, Possagno (Museum Gypsothek Canova) mehrere Filmportraits u. a. „Weibliche Poesie einer Bildhauerin“ von Traudi Messini (RAI Sender Bozen) sowie „Garten der Sehnsucht“ von Hans Wieser (RAI Sender Bozen)

Reisen durch die Mittelmeerländer, Afrika, Argentinien, Orient. Die Künstlerin bringt von ihren Reisen unzählige Eindrücke und reichhaltiges Zeichenmaterial zurück.

Sieglinde, wie bist du auf den Gedanken gekommen, einen Skulpturengarten anzulegen?
Vor Jahren war ich im Auto unterwegs und kam von einer Skulpturenausstellung in Kranj in Slowenien. Da fragte mich meine Freundin: „Was möchtest du eigentlich vom Leben? Was wäre dein Wunsch?“
So spontan fiel mir dazu nichts ein, es gibt ja viele Dinge, die man sich wünschen kann, aber dann kam mir etwas in den Sinn, das mir schon lange wichtig war und ich antwortete: „Weißt du, wenn ich fünf Meter Grund hätte, in dem ich meine Skulpturen aufstellen könnte … Zu meinem 60sten Geburtstag könnte ich mir das schenken. Ja, das wäre mein Wunsch.“
Ich erinnere mich noch, dass ich danach zu meinem Haus in Buchholz fuhr. Dort waren ein paar Männer im Wald, der vor dem Haus am Hang steht. Sie plagten sich durch das dichte Gestrüpp, schnitten Holz und trugen es weg.

Auf einer Reise kam dir also der Gedanke, den Skulpturengarten anzulegen.
Ja, ein schöner Platz für meine Skulpturen sollte es sein, ich hatte ja so viele. Außerdem brauchte ich einen Ort, den ich frei gestalten konnte. Einen Ort des Lichtes. Einen Ort, an dem ich mir einen Lebenstraum erfüllen konnte. Den Traum der Liebe und Gleichberechtigung, den Traum vom Frieden. Es sollte ein Ort sein, wo ich bleiben und zugleich reisen konnte.
Für dieses Vorhaben war das Waldstück in Buchholz ideal. Unten im Tal fließt die Etsch, unterhalb Venedig mündet sie ins Mittelmeer, das sich irgendwo in der blauen Ferne mit den Wassern des Atlantiks vermischt.
Nach einer weiteren Reise – das war im November 2001 – brach ich mir ein Bein und musste vierzehn Tage Ruhe geben. Fuß im Gips, in so einem Augenblick hat man Zeit zum Nachdenken. Daraus wurde bald ein systematisches Planen. Im Bett liegend rechnete ich die Maße des Waldstücks aus und überlegte, wem ich meine Skulpturen geliehen hatte, bei welcher Ausstellung sie waren, und wo ich sie im Skulpturengarten platzieren sollte.

Du hattest damals schon viele plastische Arbeiten?
Ich hatte rund hundert Skulpturen in der Größe von 20 cm bis 2,25 m, katalogisierte sie, berechnete die Maße der Sockel. Meine Arbeiten waren bei Ausstellungen in Innsbruck, Pisa, Verona und Bozen. Sie waren aber auch unter meinem Bett gelagert, auf meiner Terrasse oder bei meinen Freundinnen „abgestellt“.
Nach dem Planen halfen mir liebe Bekannte, die Vertiefungen für die Sockel auszugraben und die Skulpturen aufzustellen. Für mich war das ein magischer Moment.

Du hast deinen Garten so angelegt, dass am Eingang die kleinen Skulpturen zu sehen sind und weiter hinten die mittelgroßen und großen. Warum?
Diese Anordnung zeichnet meinen Lebensweg nach. Ich beginne vorne mit den kleinen, erdhaften Frauen. Langsam werden sie größer und endlich auch frei. Dann entdecken sie die Männer, sie entdecken das Positive und das Negative im Leben und auch die Schrecken des Krieges.

Deine Figuren suchen das Licht. Finden sie es?
Doch, sie brauchen nur sehr lange. Anfangs hocken sie am Boden und recken den Kopf nach dem Licht. Sie brauchen Zeit, bis sie sich erheben. Schließlich sind sie nur mehr mit den Zehenspitzen am Boden. Sie haben noch Wurzeln, aber sie sind frei und schnellen in die Höhe. Wenn sie endlich stehen und wenn alles Geist ist, wenn der Kopf größer wird, dann legen sie sich befreit auf den Boden, um sich auszuruhen.

Welche Materialien verwendest du für deine Skulpturen?
Ich möchte, dass meine Skulpturen lange halten. Sie müssen die Jahreszeiten überstehen und die Jahre, und deshalb nehme ich vorzugsweise Bronze. Bronze überdauert die kalten Winter und die heißen Sommer; auch die Steine, die gelegentlich vom Hang herunterrollen, können diesem Material nichts anhaben.
Am Anfang hatte ich viele Tonarbeiten im Skulpturengarten, musste sie aber mit Glaskuben schützen, weil der Schnee die Keramik zerdrückt und die Witterung sie zerspringen lässt. In der Folge arbeitete ich viel mit Bronze und in jüngerer Zeit auch mit Stein. Außerdem bin ich dabei, die Tonarbeiten, die im Laufe der Zeit Schaden genommen haben, in Bronze zu gießen. Das mit dem Skulpturengarten ist ein fortwährendes Arbeiten. Was besonders interessant ist: man kann zwischen den Skulpturen durchgehen. Einmal sieht man sie ganz nah, von vorne, und wenn man den Standort wechselt, sieht man sie von der Seite oder von hinten. Das ist der eigentliche Reiz der Vollplastik.

Deine Figuren sind nackt.
Ja, ich stelle meine Figuren nackt dar. Der h­eilige Franz von Assisi zog seine Kleider aus und übergab sie seinem Vater, weil er nichts besitzen wollte. Das ist nur ein Vergleich. Mit der Nacktheit will ich das Zeitlose unterstreichen, denn wahrscheinlich waren die Menschen vor 10.000 Jahren ungefähr gleich, wie sie in weiteren 10.000 Jahren sein werden. Mich interessiert die Bekleidung also nicht. Wenn ich einer Frau ein Dirndl anziehe, dann ist klar, sie ist eine Tirolerin. Wenn ich ihr aber ein Tuch vor das Gesicht gebe, wird deutlich, dass sie aus einer anderen Kultur kommt. Wenn ich in die Skulptur einen Haarschnitt einarbeite, ist sofort erkennbar, ob sie im Jahr 1900 oder 2000 angesiedelt ist. Die Nacktheit meiner Figuren hat also nichts mit Sexualität zu tun.
Die Nacktheit ist auch eine Art der Demut, sehe ich das richtig?
Ja, vor dem Universum sind wir nackt. Was haben wir denn schon? Unsere Seele vielleicht.

Was ist dir bei deinen Arbeiten noch wichtig?
Mir geht es um die Aussage und oft auch um das Thema Frau.
So spiegelt sich in meinem Skulpturengarten nicht nur meine Entwicklung als Bildhauerin, sondern auch meine Entwicklung zur unabhängigen Frau hin wider. Aus diesem Grund sitzen die ersten vier, fünf Figuren – allesamt Frauen – am Boden und halten sich an der Mutter Erde fest.
Sie können noch nicht für sich alleine stehen, sie brauchen Halt, suchen aber das Licht und die Erfüllung. Und später erheben sie sich.

Bei einem Gespräch in deinem Atelier hast du einmal gesagt, die Jahreszeiten im Skulpturengarten wären für dich wichtig.
Genau, die verschiedenen Jahreszeiten sind für mich immer wieder ein Wunder. Die Skulpturen sind eins mit der Natur, alles greift ineinander, lebt voneinander, ergänzt sich, erzählt leise und laute Geschichten. Im Frühjahr gibt es manchmal Schmelzwasser, die Vögel zwitschern unablässig, Farne rollen ihre Triebe aus und schmie­gen sich zartgrün an die Skulpturen. Später blühen Maiglöckchen, die Bienen suchen Nektar und fliegen von einer Blume zur anderen. Im Sommer öffnet neuerdings eine gelbe Rose ihre Knospen, und die Akeleien haben Blüten wie kleine Glocken. Im Herbst glänzen zwischen den Skulpturen und Zweigen Spinnennetze, und ein besonderes Licht fällt auf das sich rot färbende Buchenlaub. Im Winter gibt es manchmal Schnee und die Spuren von Hasen, Hirschen und Rehen …

Mir scheint, dein Skulpturengarten hat etwas Märchenhaftes.
Ich finde schon, denn jedesmal wenn ich darin herumgehe, sehe ich alles anders. Manchmal fällt die Sonne auf die Hände einer Bronzeskulptur und lässt sie strahlen, als ob ein Segen von oben herunter kommen würde. Das sind tiefe und bedeutsame Augenblicke. Dann blüht wieder etwas Neues, oder Efeu rankt sich sacht um die kleinen Figuren. An den Sommerabenden schwirren Glühwürmchen herum, und im Winter ragt von den kleinen Skulpturen manchmal nur ein Kopf aus dem Schnee.
Das ist so, als ob da wirklich jemand leben würde, ein Zauberwesen vielleicht, mit seinen Verwandten. Ja, und im Spätherbst, wenn in der Früh der Nebel kommt – auf einmal öffnet er sich, und eine Figur taucht auf und hinter ihr die nächste und die übernächste. Oder bei Regen… Ich liebe den Regen, wenn er auf die Figuren fällt. Die Marmorblöcke beginnen zu glänzen und zu leuchten, weil die Kristalle besser zu sehen sind.
Sprichst du mit deinen Skulpturen?
Das tue ich. Ich sage, danke, dass ihr geboren seid und dass ich von irgendwoher die Kraft bekommen habe, euch anzufertigen. Ich danke der Mutter Erde und dem Universum. Allein wäre ich nicht fähig zu arbeiten. Das heißt, von irgendwoher bekomme ich die Kraft.

Wenn BesucherInnen durch deinen Skulpturengarten gehen, sprechen die Figuren dann mit ihnen?
Ja, wenn die Menschen Zeit haben und die Skulpturen in Ruhe betrachten, schon. Außerdem sollten sie mit den Fingerspitzen über ihre Körper gleiten und nicht Angst haben, sie anzufassen. Die BesucherInnen können ganz vorsichtig über die Skulpturen gleiten und ihre Linien erspüren. Die Linien sind nicht unterbrochen, sondern ziehen sich stetig weiter. Es fließt alles. Es muss fließen, so wie meine Gedanken ständig weiterfließen.

In den Galerien kann man die Werke meist nur betrachten, aber deine Kunst ist zum Anfassen.
Im Skulpturengarten ja. Bei mir ist der Tastsinn sehr ausgeprägt, meine Augen sehen nicht so viel. Und überhaupt, das hat man ja vergessen: man traut sich kaum, den Körper des anderen zu berühren. Also sacht über die Skulpturen tasten, nur ein Streicheln. Als ob es das Gesicht eines Kindes wäre.

Du hast einmal gesagt, dass es dir wichtig ist, den Dingen Zeit zu lassen, auch deinen Skulpturen. Wie ist dein Verhältnis zur Zeit?
Ich lebe ohne Uhr. Ich arbeite an meinen Skulpturen nur dann, wenn ich wirklich Lust habe – wobei ich dazu sagen muss, dass ich eigentlich immer Lust habe. Öfters arbeite ich auch nachts in meiner Wohnung, schreibe meine Gedanken auf und mache nebenher den Haushalt. Wenn ich bügle und dabei die Fenster anlaufen, zeichne ich auf die Scheiben. Das funktioniert wunderbar. Nicht selten gehe ich nachts in mein Atelier. Dort kann ich um diese Zeit zwar nicht hämmern und Maschinen benutzen, aber es gibt genügend andere Tätigkeiten, denen ich nachgehen kann, skizzieren und modellieren zum Beispiel. Außerdem zeichne und schreibe ich an die Wände, damit ich meine Projekte immer vor mir habe.

Du hast auch einmal gesagt, Kunst sei für dich wie atmen und essen. Was bedeutet das?
Das heißt, dass ich die Kunst brauche: atmen, essen und künstlerisch
tätig sein … Dazu fällt mir der Satz von Nietzsche ein: „Um an der Realität nicht zugrunde zu gehen, braucht man Kunst“.
Ich brauche Kunst, Spiritualität, Musik und die Natur. Für mich sind meine Arbeiten Gedankensplitter, denen ich mit Material Form gebe, immer wieder neu, so als ob es ein Tagebuch wäre.
Ich überlasse meinen Skulpturen die Freiheit, zu sein, was sie sind, und ich überlasse es auch der Betrachterin und dem Betrachter, sich darüber Gedanken zu machen.

Wie ist dein Verhältnis zur Kunstszene?
Ich beobachte sie, mache aber nicht mit.

Du möchtest wahrscheinlich auch nicht mitmachen, oder?
Nein, mir geht es um andere Dinge, um das Umsetzen meines Empfindens und Erlebens. In meinen Arbeiten geht es mir auch um die Aussage, um das Material und um die Kraft, die ich daraus schöpfe. Das Arbeiten mit Bronze gibt Kraft, auch das Arbeiten mit Stein gibt Kraft. Ich habe mehrere große Steinarbeiten im Skulpturengarten, die mich mit Freude erfüllen. Arbeiten mit Stein traut man sonst nur Männern zu. Aber eine Frau kann auch Stein behauen. Dazu braucht es vor allem Herz.

Welche Steinarbeiten stehen in deinem Skulpturengarten?
Da ist einmal die Skulptur „Tango“, ein Liebespaar. Es muss tanzen, wie die Musik es ihm vorgibt. Deshalb hat das Liebespaar auch nur einen Kopf. Dann sind da noch die „Friedensfrau“ und die „Mutter Erde“ sowie eine neue Arbeit, die gleichzeitig „Mann und Frau“ ist. Von einer Seite sieht man die Frau, die schwanger ist. Das bin ich mit meinen tausend Ideen. Auf der Rückseite der Schwangeren ist ein Mann angedeutet. Manchmal habe ich nämlich das Gefühl, man müsste ein bisschen Frau und ein bisschen Mann sein, ein bisschen weiblich und ein bisschen männlich, um in dieser Welt zu bestehen. Und dann habe ich noch einen großen Laaser Marmorblock, der am Weg liegt und darauf wartet, dass ich eine Skulptur aus ihm mache.

Hast du weitere Projekte, die du im Skulpturengarten verwirklichen möchtest?
Ja, was ich eines Tages noch machen möchte, ist ein Projekt, das mit den Gedichten von Hafis zu tun hat. Diese Gedichte habe ich in Persien kennen gelernt. Hafis sagt unter anderem: „Solange es Menschen gibt, die unterdrückt werden, kann man nicht glücklich sein“. Dieser Satz hat auch mit mir zu tun. Er hat mit uns allen zu tun. Natürlich gibt es noch andere Projekte, die mir im Kopf herumschwir­ren. So viele, dass ich tausend Jahre alt werden müsste, um sie umzusetzen. Wichtiger aber ist, dass ich im Skulpturengarten immer wieder neue Spuren legen kann – Spuren, die andere Menschen lesen und interpretieren können. Im besten Fall sind diese Spuren auch Wegweiser. Dieser Gedanke macht mir Freude und erfüllt mich als Künstlerin.

Interview: Marianne Ilmer Ebnicher